Unsere Vogelwiese

von Rüdiger G. Wisse

 

“Auf die Vogelwiese geht der Franz…“ All‘ die Jahre wieder geht es am Schützenfest Montagmorgen zur Vogelwiese, wo um die Ehre des Schützenkönigs geschossen wird. Aber sie war nicht immer an dem Ort wo sie heute ist.

 

Schon seit Jahrtausenden veranstalten die Menschen Feste, auf denen im friedlichen Wettkampf ein Sieger ermittelt wird, dem Ruhm und Ehre als Lohn winkt. Die bekanntesten sind sicherlich die Olympischen Spiele der Antike. Im Mittelalter sind vor allen Dingen die Ritterspiele bekannt, wo mit Lanze und Schild zu Pferde gekämpft wird, oder zu Fuß mit dem Schwert. Mit dem ausgehenden Mittelalter sind inzwischen das Bürgertum und die Zünfte in der gesellschaftlichen Stellung gestärkt worden. Und so entwickeln sie neben den ritterlichen Turnieren des Adels ihre eigenen Feste mit eigenem Kampfspiel, den Schießwettkampf. Da Zünfte auch oft als Bürgerwehren in Städten aktiv sind, ist ihnen der Umgang mit Waffen, allen voran die Armbrust, vertraut. Diese friedlichen Wettkämpfe, bei denen es vielfach auch um gesellschaftliche Ehren geht haben sich dann auf allgemeine weltliche Feste übertragen.

 

Seit der Erneuerung der Bruderschaft im Jahr 1850 ist das Vogelschießen in Müschede  nachweisbar. Denn bereits ein Jahr später, also 1851, heißt der Schützenkönig Johann Stein. Einen wichtigen Hinweis finden wir im Protokoll der Vorstandssitzung vom 18. März 1900. Dort ist zu lesen „Außerdem wurde im Jahr 1850 die Hubertusbruderschaft erneuert und wurde ein weltliches Fest mit Vogelschießen eingeführt.“ Da uns ein Protokollbuch erst ab 1894 vorliegt gibt es über den Ablauf des Königsschießens und den Ort der Vogelwiese seit 1850 keine gesicherten Erkenntnisse. Die bis 1826, also dem Jahr der Zwangsenteignung und Auflösung der Bruderschaft durch den 1. Landrat des Kreises Arnsberg, Thüsing, gefeierten Feste (die Traktemente) sind letztendliche kirchliche Feste gewesen auf denen es vermutlich kein Vogelschießen gab.

 

Die jährlichen Feste heißen von 1850 bis 1923 Hubertusbruderschaftsfest, ab 1924 Festfeier und erst im Jahr 1929 wird der heute noch gültige Name Schützenfest eingeführt (Protokoll 30.06.1929).

 

In den Protokollen nach 1900 ist nur sporadisch eine Eintragung zu finden. Am 20. März 1904 entschließt sich der Vorstand, eine neue Vogelstange beim Holzhändler Franz Hoffmann anzuschaffen. Am 3. Juli 1904 wird beschlossen „Soll der Vogel am zweiten Tage und zwar des Morgens abgeschossen werden, weil die Prozession, welche bisher am Montag abgehalten wurde, am ersten Tag stattfindet.“ 1905 liefert Josef Wiese den Vogel kostenlos.  Am 10. Juni 1906 beschließt der Vorstand die „Anfertigung eines Schränckchens zum Anbringen der Medaillen vom Vogel vom Jahre 1850 bis 1899 von Tannenholz und Eichenanstrich mit einer Glastür. Hintergrund weißer Ölanstrich.“ Im Jahr 1912 gibt es entweder eine neue Vogelstange oder die bisherige wurde (behördlich) abgenommen. Das Protokoll vom 21. Juli nennt unter Punkt 1. Abnahme der Vogelstange. Weiteres zu diesem Punkt liegt nicht vor. Ebenso wenig nähere Auskunft gibt das Protokoll vom 14.06.1931, in dem auf die besonderen Vorschriften beim Vogelschießen hingewiesen wird.

 

Über den Ort der Vogelstange und der Vogelwiese finden wir endlich Auskunft im Protokoll vom 6. Mai 1935 unter Punkt V. Der Vorstand erörtert die Versetzung der Vogelstange, da die Polizeiverwaltung wegen der angebauten Häuser das Schießen an der Kreisstraße (heute Krakeloh) nicht mehr genehmigt. Als Platz ist die Kündel, Richtung Tytmeke (Dietmecke) vorgesehen. Damit scheint gesichert, dass, von wann auch immer, bis 1934/35 die damalige Vogelwiese, ebenso wie nach dem 2. Weltkrieg, auf dem Heidknapp lag. Also das Gelände oberhalb/neben dem Haus der Familie Stammschulte am Ortsausgang Richtung Gut Wicheln. Im Juni 1935 geht an die Freiherr von Fürstenberg’sche Central-Verwaltung in Herdringen ein Gesuch „zwecks eines Platzes für die Vogelstange an dem untern Rande der Tytmeke.“ Wann und wie genau diesem Gesuch stattgegeben wird konnte bisher nicht in Erfahrung gebracht werden. Da dieses Datum aber vor dem Schützenfest liegt (2. Sonntag im Juli) ist es denkbar, dass schon 1935 an der Vogelstange an der Kündel geschossen wurde.

Halterung alte Vogelstange Kündel
Halterung alte Vogelstange Kündel

Das letzte Vorkriegsschießen um die Königswürde ist 1939. Danach fallen wegen des II. Weltkrieges alle Schützenfeste bis 1947 aus. Mit der Vorstandsitzung vom 4. Juli 1941 werden auch alle anderen Aktivitäten der Bruderschaft kriegsbedingt eingestellt.

 

Nach dem Krieg sind die Bruderschaften und Schützenvereine durch die Alliierten (bei uns durch die Briten) verboten. Erst 1947, nachdem sich die Schützenbruderschaft St. Hubertus Müschede der Erzbruderschaft vom Hl. Sebastianus (heute Bund der Historischen Deutschen Schützenbruderschaften) anschließt können die Aktivitäten als christlicher Verein wieder aufgenommen werden. Das erste Schützenfest mit Vogelschießen feiert das Dorf 1948. Laut Protokoll vom 11. Juli 1948 soll das Vogelschießen nach dem Schützenhochamt auf dem Sportplatz stattfinden. Dieser liegt damals noch auf der Wiese von Landwirt Schulte-Weber direkt rechts hinter der Schweinebrücke und vor dem kleinen Melkstall. Obwohl das Protokoll vom 4. Juli 1948 ein Armbrustschießen plant (Gewehre mit scharfer Munition sind durch die Britische Besatzungsmacht verboten) gibt es Stimmen, die sagen, es wäre in dem Jahr mit Steinen auf den Vogel geworfen worden. Ob nun Armbrust oder Steine, die Frage konnte bisher nicht abschließend geklärt werden. Jedoch wird dann 1949 der Vogel mit der Armbrust von der Stange geholt. Die Vogelwiese ist wieder auf dem Heidknapp an der Kreisstrasse (heute Krakeloh). Das  Bild, wo Albert Hoffmann sr. mit der Armbrust schießt gibt den Blick frei vom Heidknapp auf den Hohnrohn. Viele sagen, ab 1950 sei wieder mit dem Gewehr geschossen worden. Es hat sich aber doch noch ein Zeitzeuge gefunden und auch der Film über das Jubelfest ist wieder aufgetaucht. Hier ist klar zu sehen, dass der Vogel mit Steinen abgeworfen wurde. Interessanterweise hat es aber auch wenigstens 3 Abschussversuche mit einer Armbrust gegeben und zwar während noch mit Steinen geworfen wurde. Ein unter heutigen Sicherheitsaspekten unerhörter Vorgang.

 

 

Dort bleibt dann auch die Vogelwiese, bis der Vorstand auf seiner Sitzung am 31.05.1952 beschließt „die Vogelstange solle am alten Platz an der Kündel wieder aufgestellt werden.“ Die Stange ist ungefähr 12 m hoch und der Vogel wird an der Spitze befestigt. Ein Kugelfang ist nicht vorhanden, sodass die Kugeln, die den Vogel nicht treffen, weit in den Wald fliegen. Aus Sicherheitsgründen kürzt man 1962 die Stange auf 7 m. Letzter König an der 12 m Stange ist Gisbert Schulte. Erster und zugleich einziger König an der 7 m Stange ist Günther Rohe.

 

Albert Hoffmann sr. mit Armbrust
Albert Hoffmann sr. mit Armbrust
Vogelschießen 1952
Vogelschießen 1952

Karte mit Standorten Vogelstange (1. Kündel; 2. Heidknapp; 3. Wolfsbeil/Schulte-Weber)
Karte mit Standorten Vogelstange (1. Kündel; 2. Heidknapp; 3. Wolfsbeil/Schulte-Weber)

Weitere Sicherheitsbedenken führen dazu sich nach einem neuen Platz umzusehen. Dieser ist schnell gefunden. So entsteht 1963 die noch heute bestehende Vogelflachschussanlage. Der Kugelfang liegt nun auf städtischem Gebiet auf dem Flurstück 40, Flur 012 (Wolfsbeil). Der im Volksmund genannte Grüner Weg trennt ihn von der Vogelwiese. Diese Wiese stellt der Landwirt Hubert Schulte-Weber, heute sein Sohn Friedrich, zur Verfügung. Erster König auf dieser neuen Anlage ist Peter Hübner sr.

 

Diese Vogelflachschussanlage ist im Großen und Ganzen seit 1963 gleich geblieben. Immer wieder zwingen aber neue Vorschriften der Behörden die Schützen dazu, Veränderungen vorzunehmen. Die umfangreichen behördlichen Sicherheitsvorschriften beziehen sich hauptsächlich auf den Kugelfang, die Lagerung, den Transport und den Umgang mit Waffen und der Munition sowie den Sicherheitsvorkehrungen für die Zuschauer. In regelmäßigem Turnus, heutzutage alle 4 Jahre, wird der Schießstand durch die Kreispolizeibehörde kontrolliert und die Bruderschaft erhält nach bestandener Abnahme die Erlaubnis zur weiteren Benutzung der Schießanlage. 

 

Anfangs schießen die Königsanwärter mit drei Gewehren. Die notwendigen Gewehrlafetten werden an fest montierten Halterungen im Boden der Wiese verschraubt. Jedes Jahr müssen die Gewehre und Lafetten eigens für das Königsschießen auf- und dann wieder abgebaut werden. Im Jahr 2002 wird die Anlage auf 2 Gewehre reduziert.  Es stellt sich heraus, dass es bei einem Gesamtabstand der Gewehre in der Breite von 8 m zum Schrägschießen in den Kugelfang kommt. Gemäß Schießstandrichtlinie des Deutschen Schützenbundes ist dies aus Sicherheitsgründen unbedingt zu vermeiden. Deshalb wird die in Schussrichtung liegende rechte Schützenposition aufgegeben und die linke an die mittlere bis auf den Abstand von 1,50 m herangezogen. Es wird nun mit einem 6,5° aufwärts berechneten Schusswinkel auf den Vogel geschossen, der in 29,50 m Entfernung im Vogelfang hängt. Die Lafetten sind so eingestellt dass die darauf montierten Einlaufgewehre nur in den Vogelfang schießen können. Vor einigen Jahren muss die Aufhängung des Vogels sicherheitstechnisch verändert werden. Die letzte große Änderung am 1,90 m breiten und 2 m hohen Kugelfang ist 2016 die Entlackung, d.h. der weiße Lack muss vom Holz entfernt werden um ein Rückprallen der Kugeln zu vermeiden. Über Unfälle ist in den Protokollbüchern nichts verzeichnet.

 

Die Flinten waren immer eine Leihgabe zum Schützenfest, lange Jahre von Werner Stöhr sr. aus Lippstadt der auch die Lafetten entwickelt. Die Waffen gehen auf seinen Sohn Klaus über, der sie1969 der Bruderschaft zum Kauf anbietet. Die Bruderschaft besitzt heute 5 Einlaufflinten, vier der Marke „Baikal“ (russisches Fabrikat) und eine der Marke „Cosmos“ (spanisches Fabrikat), alle Kaliber 16/70. Als Munition wird ausschließlich die sogenannte Königspatrone Kal 16/70 verwendet. Früher wurde auch schon mal mit Schrottkugeln geschossen. Dies ist heute aber strikt verboten. Die Baikalflinten sind von Familie Stöhr erworben, die Cosmosflinte ist eine Spende des Schützenbruders Hans-Dieter Pies. Die Waffen werden das Jahr über in einem Panzerschrank der Sicherheitsklasse 0 aufbewahrt. Die Lafetten lagern im Keller der Schützenhalle.

 

Der Aufbau der Lafetten und Gewehre sowie die Schießaufsicht liegen in den bewährten Händen von Hubertus Henne und seinem Team. Die Sicherheitsabsperrungen übernimmt dankenswerter Weise die Freiwillige Feuerwehr.

 

Seitdem der Landwirt Hubert Schulte-Weber seine Weide als Vogelwiese zur Verfügung  stellt hat sich ein jährliches Ritual entwickelt. Der Geschäftsführende Vorstand ist gehalten, jedes Jahr formal um die Erlaubnis zur Benutzung der Vogelwiese nachzufragen. Die erfolgte Freigabe wird ausgiebig mit einem guten Schluck Schnaps besiegelt.